Venezianische Liebe

Leseprobe

Tischkarten, weiße Schleifen, das blaue Strumpfband, das alte Spitzentaschentuch ihrer Großmutter, der Tischschmuck … wenn sie an ihr Gepäck dachte, wurde ihr schlecht. Ein einziger Koffer allein für die künstlichen Blumen! Hoffentlich fand sie einen Träger, der sie nicht übers Ohr hauen wollte. Als sie vor einem halben Jahr den Palazzo, die Kirche und einen Pfarrer mit starken Nerven ausgesucht und die ersten Vorbereitungen getroffen hatte, war sie an einen Dienstmann geraten, der ihr weismachte, eine zarte Frau wie sie könne unmöglich das leichte Handgepäck mit eigener Muskelkraft befördern. Er hatte tatsächlich ´donna tenera` gesagt, und prompt war sie auf seinen italienischen Charme reingefallen. Bis zur Tür des Palazzos hatte er dann so viel von seinen mutterlosen Kindern, den Kosten für die Beerdigung seiner geliebten Gattin und der teuren Medizin, die sein Vater benötigte, erzählt, dass Maria sich genötigt gesehen hatte, das vereinbarte Honorar zu verdoppeln. Dass er anschließend beschwingten Schrittes auf die Tür des Devil’s Forest, einem düsteren Pub in der Calle delgi Stagneri, zuging, hatte ihr zu denken gegeben. Und dass er, als sie eine Stunde später wieder daran vorbeilief, noch immer dort an der Theke stand, erst recht. So was sollte ihr nicht noch einmal passieren.

  „Wir beginnen mit dem Landeanflug auf Venedig. Bitte schnallen Sie sich an und bringen Sie die Rückenlehne Ihres Sitzes in eine aufrechte Position …“
  Eine Wolke zerriss, als wäre sie vom Flügel des Flugzeugs berührt und beschädigt worden. Maria sah den fliegenden Wolkenfetzen nach, wie sie zerfransten und sich auflösten. Hoffentlich war es vernünftig gewesen, dass Amelie sich für den hauchzarten Schleier entschieden hatte, der so empfindlich war, dass Cyrill sich die Nägel manikürt und die Hände eingecremt hatte, ehe er ihn in die Hand nahm. Angeblich konnte man ihn schon mit eingerissener Nagelhaut oder einem nachlässig gefeilten Nagel ruinieren.
  Amelies Hochzeit! Ihr Baby heiratete! Das Glück flatterte in Maria, als sie daran dachte, wie überwältigt sie gewesen war, als sie ihr Kind zum ersten Mal im Arm gehalten hatte, als Amelie laufen lernte, als sie ihre ersten Worte sprach, als sie eingeschult wurde. Dann ihr erster Freund, Abitur, Studium … und nun die Hochzeit in Venedig. Die feinen Stiche des Unglücks, die sie mahnten, wischte sie beiseite. In diesen Tagen würde sie sich die Vergangenheit nicht vorhalten. Die Entscheidung, die sie vor vielen Jahren getroffen hatte, warf immer wieder ihre Schatten über die Zukunft, aber in Venedig würde sie nur aufblicken, wenn die Sonne schien. Basta!
  Unter ihr lagen die Boote zwischen den Inseln, wie bunte Perlen auf blauem Samt, winzig und wie zufällig hingeworfen. Was würde sie tun, wenn die Glasperlen, mit denen die Servietten dekoriert werden sollten, den Flug und die rüde Handhabung der Gepäckstücke am Flughafen nicht unversehrt überstanden? Eigentlich hätte es ja sowieso viel mehr Noblesse gehabt, die Perlen vor Ort, von einem der Glasbläser auf Murano, herstellen zu lassen, aber nun war es für diese Entscheidung zu spät. Solche Spezialisten hatten viel zu tun. Aufträge von heute auf morgen? „Impossibile, Signora!“
  Während das Flugzeug sank, trat Venedig aus dem Spielzeugparadies hervor und wurde zu einer Stadt aus Häusern, Plätzen, Türmen und Gassen. In welchem Turm sollten die Hochzeitsglocken läuten? Maria drückte die Nase ans Fenster, konnte aber die Kirche, in der Amelie heiraten würde, nicht ausmachen. Sie musste sich unbedingt vergewissern, dass das Glockengeläut keiner Rationalisierungsmaßnahme zum Opfer gefallen war. Wenn sie San Zaccaria verließen, musste auf jeder Piazza Venedigs und in jeder Gasse zu hören sein, dass eine venezianische Liebe ihr Happyend gefunden hatte. Ein Sohn der Stadt schloss den Bund fürs Leben! Die Zeiten, in denen Venedig seine Kirchen für die Eheschließungen von Amerikanern, Japanern, dirndlgeschmückten Bayern oder reichen Hanseaten zur Verfügung stellte, waren vorbei. Wer in Venedig heiraten wollte, musste heutzutage jemand sein, der in Venedig geboren war, in der Stadt lebte oder zumindest Eltern besaß, die dort einen Wohnsitz hatten. Notfalls auch so viel Geld, dass das Privileg mit Schmiergeldern zu erkaufen war. Sandro war zufällig in Venedig zur Welt gekommen, während eines Besuchs seiner Eltern in der Lagunenstadt, als sie glaubten, mit der Geburt ihres Sohnes sei erst vier Wochen später zu rechnen. Dass ihn sein Pass als waschechter Venezianer auszeichnete, hatte seine Eltern dennoch einige tangenti gekostet. Sandro war stolz darauf, in Venedig geboren zu sein. Hätte der Arzt seine Geburt sorgfältiger berechnet, wäre er in Mailand zur Welt gekommen, wo sein Vater eine Strumpffabrik besaß, die Sandro demnächst übernehmen sollte. Amelie und Sandra hatten sich auf einer Messe in Bologna kennen gelernt, wo Sandro seinen Vater unterstützte und Amelie sich mit einem potentiellen Kunden traf, der in Deutschland Fuß fassen wollte und dafür eine deutsche PR-Beraterin brauchte.
  Unter der Boeing schwankten ein paar Privatflugzeuge über der Lagune, als wären die Piloten nicht sicher, ob sie wirklich landen sollten, und wenn ja, wo der Flughafen sein mochte. Hoffentlich schafften es Amelie und Sandro, zu ihrer eigenen Hochzeit pünktlich zu sein. Vorsichtshalber würde Maria den Pastor fragen, wie gut gepolstert der Zeitpuffer bis zur nächsten Trauung war. Womöglich konnte ein diskreter und heimlich knisternder Händedruck dafür sorgen, dass der Pfarrer im Notfall dem nächsten Brautpaar erzählte, das Kruzifix sei von der Wand gefallen, was zu einer Verzögerung geführt habe. Leider nicht zu vermeiden, so verzweifelt und untröstlich das Gemeindeoberhaupt auch war.
  Nun kam der Markusplatz in Sicht, der Dogenpalast, der Campanile. Die Gondeln waren nun von den schnellen Motorbooten zu unterscheiden. Das Bild gestaltete sich immer farbiger, das Leben zwischen den dunklen Gemäuern wurde bunter, je näher sie herankamen. Hoffentlich gefiel Amelie die weiße Spitzenunterwäsche, die Maria gekauft hatte, nachdem die Garnitur, die die Braut selbst ausgesucht hatte, das Opfer eines blauen Sockens geworden war, der die Weißwäsche attackiert hatte.
  Die Aufgabe, die vor ihr lag, kam Maria mit einem Mal vor wie der Gang durch ein Labyrinth. So gut auch alles vorbereitet war, ihre wohldurchdachte Organisation würde sich an italienischer Sorglosigkeit reiben, ihre Pläne würde sie gegen unzählige Einmischungen verteidigen müssen. Jeder der geladenen Gäste, die in Kürze ebenfalls in Venedig eintrafen, würde versuchen, seinen Einfluss geltend zu machen, seinen noch besseren Geschmack und sein noch stärker ausgeprägtes Organisationstalent zu beweisen, seine noch praktischere Seite zum Vorschein zu bringen. Am Ende würde sich womöglich die Braut selbst einmischen.
  Maria lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das Flugzeug setzte hart auf, und im selben Augenblick fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, die Geschenke für Sandros Eltern einzupacken, ein Buddelschiff für den Vater und für die Mutter den Toaster, der das Hamburgwappen ins Brot toastete. Verdammt!