Jeder lügt, so gut er kann

Leseprobe

Doch, ich liebe meine Tochter! Wo denken Sie hin? Sie ist mein einziges Kind, es war nicht leicht, sie alleine in Deutschland zurückzulassen. Aber als es dann geschafft war, als ich ihr genug Geld zugesteckt hatte, als die Gier aus den Augen ihres grässlichen Freundes vorübergehend gewichen war und aus ihren Augen die Angst, da ist mir klar geworden, dass das Leben mehr zu bieten hat, wenn man das Muttersein hinter sich lässt. Ehefrau bin ich nun nicht mehr, Tochter ebenfalls nicht. Schön, wenn man sich sagen kann, dass diverse Lebensabschnitte bewältigt sind, dass keine Lücken hinterlassen wurden, sondern jeweils die Tür zu einem Neuanfang geöffnet wurde. Schwester? Ja, das bin ich immer noch, aber von meinen Brüdern will ich hier nicht reden. Und von meinem Onkel, der mich seine Lieblingsnichte nannte, obwohl ich seine einzige war, auch nicht. Ich sehe da so ein Glitzern in Ihren Augen! tellen Sie sich gerade ein Leben ohne erdrückende Lebenspartnerschaft, fordernde Kinder und lästige Verwandte vor? Dann machen Sie es doch so wie ich. Hauen Sie ab. Nach Siena. Oder irgendwo anders hin, egal. Hauptsache, weg!

Seit sie eine erwachsene Frau war, hatte sie nicht mehr in der Öffentlichkeit gesungen, weil sie wusste, dass sie nicht singen konnte. Nun tat sie es trotzdem – oder sogar gerade deswegen. „Strangers in the night …“
Die Seitenscheiben heruntergedreht, ließ sie die Stadt Siena, ihre Einwohner und sämtliche Touristen an dem teilhaben, was ihren Musiklehrer regelmäßig dazu veranlasst hatte, sämtliche Fenster zu schließen. Als sie den Wunsch erkennen ließ, dem Schulchor beizutreten, war ihm sogar der Angstschweiß auf die Stirn getreten. Damals war ihr noch nicht klar gewesen, dass sie keinen Ton traf und sich maßlos überschätzte, wenn es um Koloraturen ging. An denen hatte sie sich einmal während des Musikunterrichts derart unbekümmert versucht, dass der Hausmeister hereinstürzte und besorgt nachfragte, ob er den Notarzt alarmieren müsse. Erst als sie einem Mann, in den sie sich verliebt hatte, „Erinnerung“ aus Cats vorsang, weil er Geburtstag hatte und mit etwas Besonderem beschenkt werden sollte, begann sie zu ahnen, wie es um ihr Talent bestellt war. „Hoffnung, in mir lebt noch die Hoffnung …“ brachte den jungen Mann bereits komplett aus der Fassung, und „Spür mich, komm zu mir und berühr mich …“ schlug ihn in die Flucht. Und zwar endgültig!
Am Singen hinderte sie diese Erfahrung nicht, sie sorgte aber von da an dafür, ihre Stimme maßvoll einzusetzen, zum Beispiel bei der Hausarbeit und immer bei geschlossenen Fenstern.  Seit sie in Siena lebte, war es mit dieser Zurückhaltung allerdings vorbei. Sie fühlte sich wieder so sorglos und auch naiv wie zu jener Zeit, als sie von ihrer Talentfreiheit noch nichts mitbekommen hatte. Italiener waren ja gottlob mit lautem Gesang und falschen Tönen nicht zu erschrecken, sondern allenfalls zu erheitern. Diejenigen, die sich missbilligend umblickten, waren garantiert deutsche Touristen. Doch die kümmerten sie nicht. Irgendwie musste es doch raus, ihr neues, ihr strahlendes, ihr in Regenbogenfarben glitzerndes Glück. Sie war selbstständig, unabhängig! Auf sich allein gestellt, dabei aber nicht allein. Auf Hilfe zwar angewiesen, aber in der Lage, sie zu bezahlen. Einfach himmlisch! Und jung! Ja, jung war sie auch. Total verrückt, aber sie fühlte sich in diesem neuen Leben wirklich jung. Und das mit sechzig Jahren und trotz ihrer Kniearthrose.
„Strangers in the night …“
Sie machte es wie der Postbote, gab Gas, als sie in die Via Valdambrino einbog, schoss durch die Straße, die durch unzählige fahrlässig abgestellte Autos sehr eng geworden war, bis zur Grundstückseinfahrt. Dort hupte sie zur Warnung, statt den Blinker zu setzen, und stieß mit einem letzten Gasgeben auf den Platz neben dem Haus, ohne auf den Schrecken des Fahrers zu achten, der ihr entgegenkam. Grellbunter Leichtsinn! Wie viel Spaß es machte, leichtsinnig zu sein, hatte sie in Siena zum ersten Mal erfahren. Das Erbe ihrer Vorfahren, die ohne Leichtsinn ein besseres Leben gehabt hätten? Dann besser nicht daran denken. Und auf keinen Fall an Clemens, dem Leichtsinn zuwider gewesen war.
Sie stieg aus, dehnte den Rücken, lockerte unauffällig ihr Kniegelenk, klopfte sich imaginären Schmutz von den Händen und betrachtete ihren weißen Fiat wie ein Cowboy sein neues Pferd. Ihr eigenes Auto! Sie tätschelte dem Wagen sogar die Blesse, ehe sie sich unter dem Gerüst duckte, um zum Eingang ihres Hauses zu gelangen. Ihr Haus! Stolz blickte sie an der Fassade hoch, alt, verwittert, alltragsgrau und bröckelig. Aber das würde niemand mehr sehen, wenn erst der Name ihres Hotels daran leuchtete. Albergo Annina! Das einzige Hotel in dieser Straße, in der sonst nur Wohnhäuser für sozialschwache Mieter standen, eine Straße mit viel Grau, aber auch voller hellblauer und zartgelber Tupfen in der Luft, sobald die Sonne auf die Dächer gestiegen war; eine Straße, die leider nicht zu den bevorzugten Adressen gehörte, da die Touristen nicht zufällig auf dem Weg zum Campo hindurchströmten. Dennoch bot sie einen guten Start für die Besichtigung von Siena, wenn sie auch außerhalb der Stadtmauer lag. Anna würde damit Werbung machen können, dass der Weg in die historische Altstadt nicht weit war. Auch mit dem Blick auf die Basilica di San Francesco, die dem heiligen Franz von Assisi gewidmet worden war, würde sie werben können. Sie lag oberhalb einer breiten Senke, direkt hinter der Stadtmauer, auf der Piazza San Francesco. Ein Anblick, der niemanden kalt ließ, bei dem man vergaß, dass das Hotel nicht gerade mit zentraler Lage punkten konnte. Wenn erst ein paar Touristen, die eine gute und günstige Unterbringung suchten, davon erfuhren, das Albergo Annina mit der deutschen Hotelleitung kennenlernten und dann durch Mundpropaganda das Haus bekannt machten, würde ihr Vorhaben gelingen, da war Anna ganz zuversichtlich. „I turned out so right for strangers …“
„Attenzione!“
Sie konnte sich gerade noch mit einem beherzten Satz unter das Gerüst retten, bevor der Dachziegel neben ihr zerschellte. „Sind Sie wahnsinnig geworden?“ Die Freude über ihre Reaktionsschnelle hielt nicht lange an.
Sie klaubte ihren linken Flipflop unter den Ziegelscherben hervor und starrte nach oben, wo ein fragendes Gesicht erschien, das sich jedoch schnell wieder zurückzog. Die deutsche Signora wollte mal wieder auf Bauvorschriften pochen und über Sicherheit reden? Dann durfte sie sich nicht wundern, wenn sich die Bauarbeiten weiter in die Länge zogen und der Umbau von Tag zu Tag teurer wurde.
Aber die deutsche Signora hatte, seit sie in Siena lebte, einiges gelernt. Die Hoffnung der Arbeiter auf eine sanftmütige ältere Dame, die jeden kleinen Fortschritt mit Espresso und Gepäck belohnen und über alle Fehler milde lächelnd hinwegsehen würde, hatte sich schnell zerschlagen. Als die Gefahr vorüber war, von einem herabstürzenden Dachziegel erschlagen zu werden, trat Anna so weit unter dem Gerüst hervor, dass sie ungehindert nach oben schimpfen konnte. Die Bauarbeiter auf dem Dach und in der oberen Etage wunderten sich nicht schlecht über die Grobheiten, die zu ihnen heraufflogen. Und da sie, wenn sie sich wunderten, stiller waren als im Zustand der Verärgerung oder männlicher Überheblichkeit, kam von oben nichts zurück, was Anna dazu hätte bewegen können, in Zukunft auf das Anbieten von Limonade, Likör und deutschen Mettendchen zu verzichten.
Sie hatte ihr gesamtes Repertoire an Beleidigungen von sich gegeben und fühlte sich erleichtert, obwohl sie wusste, dass sie die Situation damit vermutlich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert hatte. Es war ihr egal. Die Bauarbeiter waren schlampig und faul und würden es bleiben, aber sie hatte wenigstens dafür gesorgt, dass sie den Ärger darüber nicht in sich hineinfraß und am Ende mit einem Magengeschwür dastand.
„Idioten allesamt! Deppen! Armleuchter!“
Wenn einer der Arbeiter mit einem weiteren Dachziegel darauf geantwortet hätte, wäre sie weit weniger erschrocken gewesen als über die Reaktion, die sie nun traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
„Mama!“ Die Betonung auf der ersten Silbe, mit so viel Vorwurf, wie darin unterzubringen war, und die Entrüstung, mit der die zweite Silbe nicht ausgesprochen, sondern ihr geradezu vor die Füße geworfen wurde.
Anna fuhr herum. „Henrieke?“
Die Stimme, so jung, war angefüllt mit der Herablassung und Anmaßung des Alters, das blasse Gesicht voller Zurechtweisung. „Ich habe dich singen hören.“ Das klang so vorwurfsvoll, als wäre ihre Mutter wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden. Henriekes Blick wanderte von Annas Füßen zu den knappen Shorts, über das grellgelbe Topp zu dem blond gefärbten Pixiecut, ihr Kopf bewegte sich im Rhythmus der riesigen Kreolen hin und her, die an Annas Ohren baumelten. „Mama, du siehst unmöglich aus.“
„Was machst du hier?“